Der Einzelhandel hat sich zu einer Wirtschaft des Kundenerlebnisses entwickelt. Was bedeutet das für Einzelhändler?

Foto von Tim P. Whitby/Getty Images Entertainment / Getty Images

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Von Tom Van Soest | Einzelhandelsberater und Vorstandsvorsitzender von Visual Retailing

Im Einzelhandel steht derzeit viel Schwarzmalerei auf der Tagesordnung. Nahezu alle paar Wochen liest man neue Artikel zu Ladenschließungen, dem Verlust von Arbeitsplätzen und geringeren Einkäuferzahlen in Einkaufszentren. Ich glaube nicht, dass das eine Gefahr für die Branche darstellt. Stationäre Filialen sind aufregender und wichtiger als je zuvor. Die Marken und Einzelhändler, die mir recht geben würden, sind womöglich diejenigen, die bereits einen Weg gefunden haben, sich an die „Wirtschaft des Kundenerlebnisses“ anzupassen. Aber was bedeutet dieser Ausdruck? Wie ist es zu dieser neuen Form der Realität für Einzelhändler gekommen? Und welche Marken passen sich ihr an? Oder welche schaffen das nicht?

Zu Beginn dieses Artikels möchte ich mich auf einen bedeutenden Artikel beziehen, den ich letzte Woche bei NPR (National Public Radio, zur Erklärung für die europäischen Leser) gelesen habe. Darin ging es darum, wie Einzelhändler damit kämpfen, sich an die sich wandelnden Verbrauchergewohnheiten anzupassen. Es wird erwähnt, dass das Jahr 2017 bis jetzt ein besonders schreckliches Jahr für Einzelhändler ist.

Nun gut. Für einige US-amerikanische Einzelhandelsriesen wie JC Penny, Sears und Macy’s ist es das. Aber mir ging die Frage nicht aus dem Kopf, warum einige Einzelhändler genau jetzt Probleme damit haben, sich an die sich wandelnden Verbrauchergewohnheiten anzupassen. Wir haben gesehen, dass sich die Welt des Einzelhandels verändert, seitdem Amazon damals damit begann, Bücher aus einer Garage heraus zu verkaufen.

Ich habe darüber nachgedacht, inwiefern sich der Einzelhandel in den USA und in Europa unterscheidet. Ich selbst bin in den Niederlanden ansässig und dachte zuerst „Na ja, es gibt viele große Geschäfte und viel Platz darin“. Sofort springen die Unterschiede zwischen den voll bepackten Ketten, die beispielsweise Nieuwendijk in Amsterdam belagern gegenüber den großen Kaufhäusern und Fachmarktzentren in den USA ins Auge. 

Mir ist ein interessantes Zitat aufgefallen, dass meiner Ansicht nach eine weitreichende Erklärung einiger Schwierigkeiten liefert, mit denen Einzelhändler in den USA konfrontiert werden:

„In den letzten ein oder zwei Jahrzehnten konnte man beobachten, wie diese Ketten dutzende und aberdutzende Filialen eröffnen und einfach überexpandiert haben. Wir haben zu viele Geschäfte in diesem Land ... Einer Zählung zufolge kommen auf jede Person im Land etwas mehr als 2 Quadratmeter mietbare Bruttofläche", merkte ein Brancheninsider an, auf den in dem NPR-Artikel verwiesen wurde. 

Natürlich ist der Einzelhandel auf dem US-Markt anders - das lässt sich ganz einfach beobachten. Aber inwiefern anders? Nun ja, die Verbrauchertrends fallen mittlerweile etwas globaler aus. Das Wachstum des Einzelhandels wie z. B. in Dubai und Nahost beweist, dass Trends über die Grenze der Hemisphären hinausgehen - dank eines simplen Hashtags oder einer Kampagne.

Es ist ein grundlegender Gedanke, den ich hier verfolge; Einzelhändler müssen im Hinblick auf die Verbrauchertrends planen und sich auf der ganzen Welt schneller als die Konkurrenz an diese anpassen können. Der aktuelle Trend unter den Verbrauchertrends? Intelligente, beständige und attraktive Kundenerlebnisse. 

Zumindest ist in absehbarer Zeit die „Wirtschaft der Kundenerlebnisse“ etwas, das es sich meiner Meinung nach zu erforschen lohnt, damit nicht noch mehr Journalisten über den Untergang des Einzelhandels schreiben. 

 
 
Foto von Peter Macdiarmid/Getty Images News / Getty Images

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Trends einplanen

Social Media verschärfen nicht nur die Verbreitung von Verbrauchertrends auf der ganzen Welt, sondern beschleunigen auch deren Auftreten und Verschwinden. Zara, H&M und Primark sind in der Regel führend in ihrer Reaktion auf diese Trends. Sie sind Experten, wenn es darum geht, ihre Produktkollektionen zu planen und diese blitzschnell den Verbrauchern anzubieten. 

Warum ich denke, dass diese Einzelhändler gegen die Schwarzmalerei der aktuellen Einzelhandelslandschaft immun sind? Meines Wissens nach, das sich hauptsächlich auf die groß angelegte Ladenplanung bezieht, ist dies auf folgende Gründe zurückzuführen:

Erstens auf die Bemühungen, die sie in die Entwicklung schnelllebiger Produktsortimente stecken. Zweitens auf ihre Fähigkeit, ihre Produktdichte im Laden systematisch zu maximieren. Und drittens darauf, dass sie realisiert haben, dass das Kundenerlebnis von zentraler Bedeutung ist. 

Es ist immer wichtig, danach zu streben, neue Filialen zu eröffnen, aber immer mehr Einzelhändler beginnen zu realisieren, dass sie bessere Gewinne erzielen können, indem sie in erster Linie in das Kundenerlebnis investieren - und dieses Kundenerlebnis beginnt mit einer Produktkollektion, die sich nach aktuellen Trends richtet. 

Wenn man also beabsichtigt, nur ein oder zwei Filialen auf dreißig oder dreihundert zu planen, ist es wichtig, diese zu unterteilen. Die meisten Einzelhändler beginnen, die Bedeutung einer effektiven Clusterbildung in den Filialen zu erkennen, erklärte Einzelhandels- und VM-Expertin Sanna Van Hellemondt kürzlich in einem Artikel. Eine effektive Clusterbildung in den Filialen dient der Verbesserung des Kundenerlebnisses, indem jeder Art von Filiale die Flexibilität eingeräumt wird, zielgerichteter und relevanter geplant zu werden. 

Ich versuche, das zu erklären, ohne dabei zu tief zu gehen: Die Filialen können in Cluster eingeteilt werden, die auf Kriterien wie der Größe oder auch den Demografien der Kunden basieren. Diesen Clustern werden dann verschiedene Warenmengen und -varianten geliefert. Ist es purer Zufall, dass einem beim Betreten einer Primark-Filiale im Herzen Amsterdams direkt die neueste moderne Streetwear-Mode fast wie aus einem Kanye West-Lookbook herausgerissen ins Auge springt? 

Mittels effektiver Clusterbildung haben die Filialen die Möglichkeit, den Kunden die Produkte vorzusetzen, bei denen die höchste Wahrscheinlichkeit eines Verkaufs besteht - während sie ihre weiter gefasste Markenidentität beibehalten. Und die Marke spielt eine entscheidende Rolle bei diesem Erlebnis. 

Durch das schnellere Planen und Wechseln der Kollektionen (das einen Hauptgrund für den Erfolg von Zara darstellt) können die Filialen weiterhin die Käufer mit angepassten Kollektionen, die nicht nur auf saisonale Trends abzielen, anziehen, aber auch mit aktuellen Trends. Neue, aufregende Produktkollektionen ziehen Käufer an, schaffen das Kaufverlangen und stellen einen Mehrwert des Kundenerlebnisses dar. 

In letzter Zeit müssen die Einzelhändler so flexibel wie möglich in der Anpassung an die Verbrauchertrends sein. Also warum denke ich, dass es für einige Einzelhändler dieses Jahr besonders schwierig ist? Ich denke, dass dies auf die Überexpansion aufgrund von Annahmen, die im Laufe der Zeit nicht aufrecht erhalten werden konnten, zurückzuführen ist. Ihre Strategien waren einfach nicht flexibel oder anpassbar genug - von der Vorstands- bis zur Einkaufsebene. 

 
 
Foto von Rachel Murray/Getty Images Entertainment / Getty Images

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Was steckt hinter der Wirtschaft des Kundenerlebnisses?

Verbrauchertrends machen Einzelhändler zu Gewinnern oder Verlierern. Die „Wirtschaft des Kundenerlebnisses“ kennzeichnet die neue Realität im Einzelhandel. Einige Marken haben ihre Planungen darauf ausgelegt, auch wenn manche noch nicht die richtige Strategie gefunden haben. 

Die Kundenerlebniswirtschaft bedeutet, dass die Einzelhändler sich anpassen müssen, um relevante Erlebnisse zu schaffen, die die Kunden tatsächlich in die Filialen locken, sie ansprechen und ihnen einen greifbaren Grund geben, das Geschäft zu betreten. Das Interessante daran ist, dass das Kundenerlebnis zwischen online und offline verknüpft werden kann.

In meinem letzten Artikel hab ich über die Unterschiede der Generationen in Bezug auf die Kaufgewohnheiten geschrieben und einige interessante Rückmeldungen erhalten. Um dies weiter zu untersuchen, fragte ich meine jugendliche Tochter, wie sie ihre Kleidung gerne einkauft. Zu meiner Überraschung sagte sie, dass es ein wenig befremdlich für sie wäre, Kleidung online zu kaufen; sie würde lieber nach draußen gehen und mit ihren Freunden Kleidung kaufen. Ich entgegnete ihr mit der Frage nach der Tatsache, dass ich sie regelmäßig dabei sehe, wie sie auf Online-Modeseiten und Instagram stöbert, während sie eigentlich ihre Hausaufgaben machen sollte. Sie ging nicht sonderlich auf diese Art von Fragestellung ein, aber mir wurde letztendlich klar, dass sie das Internet zur Inspiration nutzt, jedoch nicht zum Einkauf. 

Es überraschte mich nicht, dass sich meine Tochter eher von dem Durchstöbern ihres Instagram-Feeds und weniger von ihren Hausaufgaben zum Einkaufen inspirieren ließ. Ich vermute, dass Ungeduld immer noch eine Tugend der jungen und Internet-bewanderten Menschen ist. 

Eine kürzlich veröffentlichte Studie, von der ich im Business Insider gelesen habe, zeigt, dass nahezu alle Vertreter der Generation Z, deren Anzahl sich bis 2020 auf etwa 2,6 Milliarden beläuft, das Einkaufen in stationären Geschäften bevorzugen. Ich freute mich, dass meine amateurhaften Untersuchungsbestrebungen bestätigt wurden. Aber bedeutet diese Studie, dass der Onlinehandel in Gefahr ist? Nein, sie zeigt, dass das Kundenerlebnis bereits online beginnt. 

Nehmen wir mal Primark als perfektes Beispiel dafür. Die riesigen Einkaufstaschen und die äußerst vielfältigen Produkte zu niedrigen Preisen regen zu einer IKEA-ähnlichen Tour an. Es gibt Sitzmöglichkeiten, Handyladeplätze und sogar Pfeile auf dem Boden, um den Fußgängerverkehr zu steuern - und der Rundgang beginnt genau in dem Moment, in dem ein potenzieller Käufer die Instagram-Seite aufruft, um sich über die neuesten Trends zu informieren. Sie haben ihre Kollektionen so schnell angepasst, dass man jeden Tag hinausgehen und etwas Neues entdecken kann. Alles ist sofort und leicht erhältlich für eine Einkaufskultur, die sowohl die Bequemlichkeit als auch das Erlebnis schätzt. 

Das ist ein Teil des Verstehens der Erlebniswirtschaft. Die Filialen müssen ihren Platz in der Einkaufsstraße finden. Wann werden sie an einem Einkaufstag aufgesucht? Und warum? Wie lange können sie die Kunden in ihrem Laden halten? Ist es ein kurzer Besuch für einen gezielten Einkauf - oder ist es ein Durchstöbern?

Das traditionelle Argument dafür, dass der physische Einzelhandel weiterhin erfolgreich ist, wird langfristig gültig sein, wenn es nach den Kundenberichten geht. Es ist nach wie vor so, dass die Menschen die Produkte anfassen und fühlen möchten. Laut einer anderen kürzlich im Business Insider veröffentlichten Studie bevorzugen 72 % der Kunden immer noch das Einkaufen im Ladengeschäft, weil sie dort die Produkte berühren und fühlen können. 

Aber die Einzelhändler können sich nicht einfach auf das Bedürfnis der Berührung der Kleidung verlassen - wer weiß ob Amazon nicht gerade an einer revolutionären Idee für neue Bekleidungsprojekte tüftelt? Was jedoch stimmt, ist, dass alle Einzelhändler weiterhin Verbindungen zwischen dem Kunden und dem Erlebnis schaffen müssen. Sie müssen weiterhin Mehrwerte schaffen, die die Lücke zwischen dem Online- und dem Offline-Shopping füllen. 

 
 
Foto von Sean Gallup/Getty Images News / Getty Images

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Neue Akteure kommen zum Spiel der stationären Filialen hinzu 

Ein Hauptbestandteil des Onlineverkaufs von Kleidungsstücken ist die Präsentation, die gleichzeitig ein positives Kundenerlebnis schafft. Amazon hat deutliche Absichten signalisiert, ein Hauptakteur im stationären Modegeschäft zu sein. Und auch Zalando - Europas Anlaufstelle Nummer Eins für den Kleidungseinkauf. 

Aber welches Geschäft wird erfolgreicher sein? Ich tendiere zu Zalando. Und warum? Weil sie ihr Geschäftsmodell um das digitale Kundenerlebnis herum aufgebaut haben und die ganze Zeit schon Hinweise des Fachwissens der Bekleidungsindustrie im Bereich Visual Merchandising übernehmen. 

Zalando ist in der Lage, das Kundenerlebnis, das bereits auf die Mode in einem physischen Einzelhandelserlebnis zugeschnitten ist, schneller und einfacher als Amazon übertragen. Und warum? Es gibt sogar schon eine eher ungünstige Berichterstattung zur Bekleidung von Amazon. Die Käufer haben ihre Abneigung gegenüber der Qualität des Einkaufserlebnisses, vor allem im Bereich Präsentation, kundgetan. Zalando weiß, worauf es bei der Präsentation (der Kleidung) ankommt. 

Der nächste Teil des Kundenerlebnisses ist die Bequemlichkeit. Wenn ich mir Jeans kaufe, dann ist es immer wieder das gleiche Modell, wegen der Passform. Ich persönlich mag die von Scotch & Soda, weil sie hochwertig sind, gut passen und ich den Stil der Marke mag. Aber die T-Shirts stehen mir nicht besonders gut, finde ich - obwohl ich sie mag. Selbstverständlich würde ich sie gerne kaufen, weil ich mich zu der Marke hingezogen fühle, aber wenn ich online einkaufe, kann ich mich nicht dazu überwinden, ein Shirt zum Warenkorb hinzuzufügen, da ich es wahrscheinlich letztendlich zurückschicken würde. 

Aber Scotch & Soda könnte ein Ass im Ärmel haben. Mit mir als Online-Kunden mit einer Filiale in der Nähe wissen sie, welche Artikel ich meinem Warenkorb hinzugefügt habe, welche Artikel ich mir angesehen habe, welche ich aus meinem Warenkorb entfernt habe sowie alle weiteren wertvollen Informationen zu meinen Einkaufsgewohnheiten. 

Wenn ich also eine E-Mail in meinem Postfach habe, in der ich eingeladen werde, in die Filiale zu einer Veranstaltung zu kommen, bei der ein lokaler Schneider Shirts anpasst, was dann? Gut, möglicherweise finde ich nur eine Entschuldigung, um den lokalen Flagshipstore zu besuchen. 

Macht mich das zu einem Kunden, der ein Geschäft betritt, nur um Kleidungsstücke anzufassen und zu fühlen? Nein, es steckt noch mehr dahinter. Es macht mich zu einem Kunden, der von dem Erlebnis angezogen wird. Durch das Schaffen dieses Erlebnisses, kann ein Unternehmen nicht nur mein Zufriedenheitsgefühl steigern, sondern auch Upselling mit mir betreiben. Die Präsentation der Filiale zusammen mit einem ausgeprägten Bequemlichkeitsgespür und Verständnis meiner Bedürfnisse schafft ein starkes Kundenerlebnis. 

Diese Marketinggewinne müssen von den Marken in der neuen Kundenerlebniswirtschaft erzielt werden. Einige Einzelhändler passen sich bereits an, viele schaffen es nicht und manche beginnen gerade erst damit ...

Um es auf einen Nenner zu bringen ...

Sowohl die alten als auch die neuen Akteure in der physischen Einzelhandelslandschaft müssen sich darauf konzentrieren, was sie zur Kundenerlebniswirtschaft beitragen, egal ob Präsentation oder Bequemlichkeit. Die Generation Z hat signalisiert, dass sie lieber im Ladengeschäft einkaufen geht und diese Sparte von Käufern muss von den Erlebnissen angezogen werden. Große Filialen müssen schließen, weil sie den Wandel der langfristigen Verbrauchertrends nicht eingeplant haben. Jeder Akteur muss eine hohe Planungsdichte berücksichtigen, von der Erstellung der Produktreihen, die schnell veränderlich sein müssen, bis hin zur Gestaltung einer Filiale. Um die Schwarzmalerei des Untergangs des Einzelhandels zu stoppen, muss der Konsens und das Verständnis bestehen, dass das Kundenerlebnis an erster Stelle stehen muss.